Gastrokritiker speisen nur bei Sterneköchen und rümpfen die Nase über Beizenküche? Nicht immer. Alexander Kühn, etablierter Gastrojournalist beim Tages-Anzeiger und Züritipp, widerlegt alle Klischees über den distinguierten Kritiker. Er sprach mit uns über schlechtes Feedback, erfolgreiche Restaurantketten und Foodblogger.
1. Klischee: Bös, böser, Gastrojournalist
Es ist das Grauen jedes Küchenchefs: Alles geht schief, der Service schlampt und der wütende Gast ist ausgerechnet ein Restaurantkritiker. Ist das das Ende für einen Betrieb?
„Wenn das erste Testessen schlecht war, geht man noch ein zweites Mal“, wiegelt Alex Kühn ab und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu: „Leider“. Beim zweiten Besuch sucht Kühn den Grund für die mangelhafte Leistung. War es ein Versehen oder ist der Koch generell zu nachlässig? Es braucht stichhaltige Gründe, damit Kühn einem Restaurant eine schlechte Kritik gibt.
Sehr enttäuscht war er kürzlich zum Beispiel vom Trendlokal NENI. „Ich kenne den Middle East Food gut aufgrund meiner Reisen in den Libanon. Das NENI hat gross angekündigt, das Nonplusultra in diesem Bereich zu sein. Der Küche fehlte es dann aber an Sorgfalt und Feinheit. In einen Fatoush gehören nun einmal die ganz kleinen, knackigen Gurken und gewisse Blättchen, sie waren aber nicht drin. Das bietet natürlich Angriffsfläche.“
Im November gab er dem aufwändigen Pop-Up in Schlieren keinen Segen. Dafür unterstellten ihm einige Leser Bösartigkeit. Kühn: „Ich kenne den harten Alltag in Service und Küche aus eigener Erfahrung. Darum macht es mir keinen Spass, einen Betrieb zu kritisieren.“ Dennoch: Wer nicht hält, was er verspricht, bekommt von Kühn eins aufs Dach. „Am Ende steht unter dem Artikel mein Name. Ich steh zu meiner Meinung und kann sie begründen. Das finde ich fair.“
2. Klischee: Gastrojournalisten essen Foodblogger zum Frühstück
Seit einigen Jahren gewinnen selbsternannte Foodkritiker an Land. Gäste bewerten das Essen auf Tripadvisor und Blogger wie Harrys Ding verfassen ausführliche Artikel zu allen Restaurants. Rümpft ein gestandener Gastrojournalist über solche Amateure nicht die Nase?
Kühn widerspricht: „Ich lese selber gerne Foodblogs zur Inspiration. Und für die Restaurants sind sie eine nützliche Plattform – sozusagen gratis Werbung. Einige Blogs haben halt schlicht eine andere Funktion als die fundierte Gastrokritik. Als Referenz zum Essengehen würde ich sie deshalb nicht nehmen. Doch es gibt Ausnahmen: Der Gourmetblog ‘Das Filet’ etwa ist äusserst fundiert.”
Für Gastrojournalisten gelten dann auch härtere Regeln: „Ich gehe nie an die exklusiven Eröffnungsevents, an denen alles spendiert wird. Ich besuche den Betrieb etwas später und bezahle das Essen selber. So wird die Unabhängigkeit gewährleistet.“
3. Klischee: Gault Millau ist die Bibel
Alex Kühn schiesst ungern gegen unten, dafür ab und zu gegen oben. Zum Beispiel gegen die Institution “Gault Millau”. Kühn ist einer der wenigen Kritiker, der sich öffentlich darüber äussert. „Die Wahl von Rico Zandonella in Küsnacht zum Koch des Jahres konnte ich nicht nachvollziehen. Auch wenn ich ihn sehr schätze: Seine Küche ist natürlich sehr gut, aber nicht so innovativ wie ich es von einem Koch des Jahres erwarten würde. Er sollte Trends vorgeben wie einst Andreas Caminada.“ Gault Millau zeichne generell eher Restaurants aus, die eine konservative Schiene fahren. Das stört Kühn. „Ich finde, die gesamte Gastrokritiker-Szene könnte eine Verjüngung vertragen. Es ist eine Männerdomäne, in der zum Teil ein altväterlicher Ton herrscht. Ich wünsche mir mehr Esprit und mehr Frechheit.“
4. Klischee: Gastrokritiker essen nur in Sterneküchen
Trüffel, Hummer und Champagner essen Gastrokritiker bis zum Abwinken. Fragt man Alex Kühn, was er in Zürich wirklich vermisst, äussert er aber bodenständige Wünsche. „Mir fehlt eine sorgfältige, liebevolle Beizenküche auf einem tieferen Preisniveau. Währschafte Gerichte wie Schwartenmagen, Fleischvögel, Leberli… von mir aus sogar Wurstsalat, aber mit gutem Käse, Essiggürkli und hausgemachtem Dressing angerichtet. Die ganzen Fertigdressings und -brühen hängen uns doch allen zu den Ohren heraus.“ Ausserdem fehle es an einer Suppenkultur: „Es eröffnen viele japanische Ramen-Restaurants, doch wo bleiben die klassischen Suppen?“ Und die Wunschliste geht weiter: „Ein Lokal, das auf feine Wiener Küche setzt, wäre super. Ein richtig gutes Schnitzel gibt es erst wieder im Amadeus in Schlieren. Und auch die Libanesen an allen Ecken überzeugen mich nicht – ich wünsche mir einen richtig authentischen.“
5. Klischee: Der Gastrokritiker hat einen Ranzen
Wer berufsmässig sehr viel und sehr gut isst, führt früher oder später gezwungenermasse etwas mehr Leibesmasse spazieren. Aber nicht Alex Kühn. Es könnte daran liegen, dass er ein Genussmensch ist: „Essen soll glücklich machen und stimulieren. Mir ist wichtig, dass es mich nicht erschlägt. Ein guter Koch kocht auch für das Wohlbefinden. Thomas Dorfer – ein österreichischer Sternekoch – zum Beispiel pflegt keine starre Menükarte, sondern agiert sehr tages- und wetterbezogen. Wenn draussen 32 Grad herrschen, dann serviert er ein Gazpacho. Wenn es nur 22 Grad sind, etwas anderes. Er nimmt die Stimmung der Gäste auf und improvisiert entsprechend.“ Genuss ist eben nicht immer nur Völlerei.
6. Klischee: Auf Du und Du mit den Mächtigen
Wenn man als Journalist in den feinsten Restaurants am Tisch sitzt – da kennt man ja sicher alle Grossen in der Gastronomie? Die Antwort lautet: Ja. Aber auch hier äussert sich Alex Kühn gerne kritisch. So hat er einige Ideen für Food Zürich: „Wie wärs mit einer Nachwuchsförderung mit niedriger Schwelle für neue Talente? Das würde Zürichs kulinarisches Szene sicher gut tun.“
Und was wird aus dem gross angedachten Plan, dass Zürich eine Weltstadt für Geniesser werden soll? „Zürich hat noch keine eine eigene kulinarische Identität. In der Schweiz wäre diese alpin geprägt. Da braucht es noch etwas Arbeit. Talentierte Köche aber sind da: Fabian Fuchs vom EquiTable zum Beispiel.“
Und was sagt der Kenner der Szene zum Vorwurf mancher Neueinsteiger, Zürich sei ein zu hartes Pflaster für Auswärtige?
„Es ist doch klar, dass erfolgreiche Gastronomen mit viel Know-how oftmals den Zuschlag erhalten. Erfahrung und Connections muss sich man halt zuerst erarbeiten. Michel Péclard zum Beispiel hat eine gute Nase, ein cleveres Händchen und hat viel frischen Wind nach Zürich gebracht. Und auch Bindella hat seinen Platz ganz oben verdient – schlecht sind seine Pizzas nämlich nicht. Manche Menschen finden es chic, auf erfolgreichen Gastronomieketten herumzuhacken. Das finde ich nicht richtig.“
Überhaupt ist Kühn zwar von Beruf Kritiker, steckt aber voller Wohlwollen. „Wir sollten keine Neidgesellschaft sein, weil uns das eher bremst als weiterbringt.“
Wer sind Zürichs Gastronomen, Köche, Lieferanten und Produzenten? Wir haben sie ausfindig gemacht, fotografiert und ihnen Fragen gestellt. Was in diesen Köpfen vorgeht, das verraten wir Dir in unserer „Züri Edition“.
Zum 1. Teil der „Züri Edition“ mit Laura Schälchli geht es hier.
Wem sollen wir in der nächsten „Züri Edition“ auf den Zahn fühlen? Schreib es uns in einem Kommentar oder via insider@lunchgate.com.